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AutorenbildLukas Kellner

Jouhatsu | Folge 7 - Das Treffen

Der Kodex. Es drehte sich alles um den Kodex. Obwohl nur mündlich überliefert und nirgendwo physisch niedergeschrieben, wusste trotzdem jeder der Yonige-Ya von seiner Existenz, kannte die Regeln und hielt sich daran wie an ein Gesetz.

Im Großen und Ganzen bildete eine einzige Prämisse die Grundlage für ihren Verbund: Jeder Mensch, der aus seinem Leben flüchten will, dem helfen wir. Wir begleiten ihn nur während seiner Flucht.

Dies führte dazu, dass man erstens ein vollwertiges Yonige-Ya Mitglied sein musste, um zu dem wir dazuzugehören und zweitens, dass es nicht erlaubt war, Menschen direkt anzusprechen oder sie nach erfolgter Lebensflucht erneut zu kontaktieren.

„Was passiert, wenn man den Kodex bricht?“, hatte Lone einmal Edgar gefragt.

„Warum willst du denn den Kodex brechen?“

„Will ich gar nicht.“

„Dann ist es doch egal!“

Normalerweise hätte sich Lone niemals mit so einer Antwort abspeisen lassen, jedoch beschäftigte ihn seine Aufgabe so sehr, dass ihm wenig Raum für andere Gedanken blieb. Da K ihn zum Quasi-Project Manager für Ayumi ernannt hatte, musste er bei der gesamten Fluchtorganisation den Überblick behalten. Im Wesentlichen gab es zwei Probleme: Zum einen würde es nicht einfach werden, Ayumi aus dem Hause ihres Vaters zu evakuieren. Man hatte sich einen Termin ausgesucht, an dem ihr Vater von seiner Firma aus einen Geschäftstermin in einem entlegenen Teil der Stadt wahrnehmen musste und erst abends zurückkehren würde. In dieser Zeit sollten dann die Seeder Ayumis Sachen so schnell wie möglich zusammenpacken, in einen Van einladen und damit zu ihrem neuen, streng geheimen Zuhause fahren. Ayumi sollte in der Zwischenzeit zum Unterschlupf der Yonige-Ya gehen, Edgar konnte dort ihren Chip umprogrammieren und K den Kontrakt abschließen.

Das andere und für Lone schwerwiegendere Problem betraf seine neue ‚Familie‘. Es stieß auf einigen Unmut, als K verkündete, dass Lone das Project Management für Ayumi übernehmen sollte – ohne Vorerfahrung, ohne spezielles Wissen, ohne sich seine Lorbeeren verdient zu haben. Während die anderen es einfach griesgrämig schluckten, schien es vor allem Kid in rasender Wut zurückzulassen. Und er gab sich keine Mühe das vor Lone zu verbergen. Einzig Edgar hielt nach wie vor zu ihm.

„Ach mach dir nichts aus dem!“, erklärte er Lone kauend und während er versuchte, ihm die Grundlagen des Chainings zu vermitteln, „der war schon immer ein übler Stinkstiefel, der ist zu allen so.“

Das war eine Lüge. Lone wusste, dass es einen Unterschied gab, zwischen jemanden nicht leiden können und jemanden von ganzem Herzen hassen. Dennoch war er Edgar insgeheim dankbar dafür, dass er den Versuch unternahm, ihn aufzuheitern. Er mochte diesen kleinen Nerd sehr und saß abends meistens mit ihm im Chaining-Labor – der Mine – um sich gemeinsam eine neue Folge One Piece anzusehen oder Edgars funkelnden Ausschweifungen über Block Chains und Zukunftstechnologien anzuhören.

„Was wirst du ihr morgen eigentlich sagen?“, fragte Edgar beiläufig, während Monkey D. Ruffy mal wieder auslobte, dass er ganz sicher der König der Piraten werde.

„Was meinst du?“

„Na ja, es ist Tradition, dass ein Project Manager dem Jouhatsu bei der Verabschiedung immer etwas mit auf den Weg gibt. Eine Weisheit oder einen Rat für das neue Leben.“

„Hm…“

Lone dachte an diesem Abend viel über Edgars Worte nach. Er wurde das Gefühl nicht los, dass es sich bei dieser Tradition um eine sehr wichtige Sache handelte. Konnten Worte Schicksal schmieden? Konnten sie den Weg eines Menschen in eine richtige – oder schlimmer – in eine falsche Richtung bewegen? Was sollte er schon einer Flüchtigen mit auf ihre Reise geben? Er musste an den Marienkäfer denken, den er vor dem Krankenhaus in einer Seitengasse entdeckt hatte. Daran, wie das Tier ihm über den Finger krabbelte, irgendwann die Elytren ausbreitete und sich in die Luft emporschwang. Vielleicht sollte er ihr dazu raten. In diesem neuen Leben zu sein, wie ein Marienkäfer. Frei wie ein Marienkäfer…


Blut tropfte an Kids Schläfe hinunter und besudelte den grauen Fahrersitz. Er hatte es sich dennoch nicht nehmen lassen, den Van zu steuern. Auf Lones Frage hin, ob es ihm gut gehe, antwortete er mit einem schroffen: „Kümmer dich um den Jouhatsu, Project Manager!“

Irgendetwas musste passiert sein, als sie Ayumi und ihre Sachen abgeholt hatten. Zurück im Yonige-Ya hatte Kid nicht mehr darüber sprechen wollen und verband sich den Kopf notdürftig mit einer Binde. Auch Gronk schwieg, was aber hauptsächlich an Kids bitterbösen Blicken lag, die ihm zu verstehen gaben, dass er ihn augenblicklich köpfen würde, sollte er den Mund aufmachen.

Weil sie zu spät gekommen waren, blieb Lone dennoch keine Zeit, großartig darüber nachzudenken. Ayumis Chip wurde von Edgar fachmännisch umprogrammiert (dazu war nicht einmal ein invasiver Eingriff nötig), K schloss den Smart Contract mit ihr ab (allein mit Ayumi in der Mine, keiner durfte dabei sein) und schließlich setzten sich Kid, Gronk, Ayumi und Lone in den Van, um den frischgebackenen Jouhatsu in seine neue Welt zu bringen. Blankes Papier. Keine Lasten mehr. Ein Neuanfang.

Lone saß auf der Rückbank. Ayumis Hüfte berührte die seine. Er konnte ihre Wärme spüren. Wenn er verstohlen zu ihr hinüber schielte, erblickte er aber nur ihr schwarzes Haar – sie hatte den Kopf gedreht und beobachtete die vorbeifliegenden, dunkler werdenden Straßenzüge.

Eigentlich müssten sie die Plätze tauschen, dache Lone. Er hätte an ihrer Stelle sitzen sollen, vor zwei Wochen schon. Damals wollte er selbst zum Jouhatsu werden und einzig sein Name schien dieses Bestreben verhindert zu haben. Oder besser: Der Name seines Vaters, hatte es verhindert. Bei dem Gedanken durchzuckte Lone ein schmerzhaftes Stechen. Er sah den Mann namens Grey Dog vor sich, dabei wusste er nicht einmal, wie dieses Monster überhaupt aussah. Er stellte sich lange, graue, zottelige Haare vor, einen Bart und gelbe, giftende Augen. Skrupellos und kalt, unfähig Mitgefühl zu empfinden – wie gut dieses Geschöpf doch in die Welt hineinpasste… Und an sie. An sie dachte er auch.

So langsam aber gewöhnte er sich daran, dass auf beinahe jeden seiner Gedanken die Erinnerung an sie folgte. Es erschrak ihn nicht mehr, wenn es geschah; der Schmerz klang zwar nicht ab, wurde aber doch zunehmend gewöhnlicher und auch die Schuldgefühle, die damit verbunden waren, wandelten sich mehr und mehr zur Routine.

Selbst das allerschönste Paradies wird einem irgendwann Fade und es scheint die vielleicht einzige Gerechtigkeit des Kosmos zu sein, dass selbiges für diese Art von Schmerzen gilt. Sie vergehen nicht, aber sie bleichen, werden langweilig und schließlich zu einem Rauschen, dass man nur wahrnimmt, wenn man sich ganz bewusst dazu entscheidet.

„Wir sind da!“, knurrte Kid und stieg in die Eisen.

Lone öffnete die Tür und half Ayumi beim Aussteigen. Die Straße, welche ihr neues Zuhause beherbergte, lag inmitten einer dünn besiedelten Gegend der Stadt, circa zwei Stunden Fahrtzeit von ihrem Vater entfernt. Kleine, bescheidene Mehrfamilienhäuser reihten sich nebeneinander. Ihnen gegenüber erstreckte sich ein kleiner Friedhof, dessen Eingang von zwei hochgewachsenen Kiefern bewacht wurde.

Lone führte Ayumi schweigend den Straßenzug entlang, bis sie an dem Haus ankamen, in dem für sie eine kleine Ein-Zimmer-Wohnung angemietet worden war. Lones Gedanken drehten sich um die Aufgabe, die ihm als Project Manager bevorstand – um den Satz, den er ihr gleich sagen wollte.

Vor der Tür blieb er stehen und wandte sich Ayumi zu. Ihre braunen Augen leuchteten wie wunderschöne Quarze durch die Nacht. Obwohl sie eher schäbige und viel zu große Klamotten trug, vermochten die es dennoch nicht, über ihre natürliche Schönheit hinwegzutäuschen. Sie hatte sich die Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, was den Blick auf ihren zarten, blassen Hals preisgab.

„Die Haare stehen dir so“, murmelte Lone unbeholfen, weil er nicht so recht wusste, wie er das Gespräch beginnen sollte. Ihre Mundwinkel zuckten nach oben.

„Danke, ich hab sie noch nie so getragen. Bis heute.“

„Ja“, antwortete Lone.

„Du hast mir die Karte zugesteckt, oder?“

„Ja, hab ich.“

„Dann verdanke ich dir sehr viel, Lone.“ Sie sprach seinen Namen und hauchte ihn fast, als versuche sie einer brennenden Wunde Besserung zu verschaffen. Jetzt oder nie, dachte Lone bei sich und versuchte seine Gedanken voll und ganz auf den Satz zu lenken, den er sich am Vorabend für sie überlegt hatte. Der Vergleich mit dem Marienkäfer. Dem fliegenden, freien, betupften Wesen.


„Muss man frei von Schuld sein, um fliegen zu können?“


Lone starrte Ayumi an. Ihre Frage traf ihn unvorbereitet. Er war gar nicht dazu gekommen, den Mund zu öffnen, um seine vorbereiteten Worte kundzutun.

Ayumis Augen begannen zu zittern, wurden wässrig und schienen den gesamten Erdkreis in sich abzubilden. Er starrte sie an. Auf einmal war da nichts mehr in seinem Innern, keine Gedanken und keine schlauen Sprüche, kein freudvoller Rat, keine Idee, wie man diese Welt hätte leichter nehmen können. Dann spürte er die Berührung ihrer Hand. Sie Ergriff die seine und übte einen sanften Druck aus.

„Ich hoffe, dass du findest, wonach du suchst. Und ich hoffe, dass dein Schmerz bald nachlässt“, murmelte sie.

Als hätte unerdenkliche Kälte den Fluss der Zeit eingefroren, standen sie da. Schweigend, betrachtend, handhaltend. Irgendwann nickte sie und löste ihren Griff. Als die berührende Verbindung unterbrach, fühlte sich Lone, als hätte man ihn in einen Abgrund fallen lassen. Ayumi schien davon nichts mitzubekommen. Sie drehte sich um und verschwand im Innern des Hauses. Lone blieb allein.


Lone lag auf seiner Pritsche, die Augen in die Nacht gerichtet, weit geöffnet, so lange bis sie wie Feuer brannten, er sie deswegen kurz schließen musste und dann erneut zu starren begann. Seine Hand. Er glaubte immer noch die Berührung ihrer Finger zu spüren. Ihre Hände waren nicht wärmer gewesen als die seinen, aber auch nicht kälter. Ihr Körper schien die gleiche Temperatur zu besitzen wie der seine. Waren sie identisch? Eins? Genau gleich? Bisher waren seine Hände doch immer kälter gewesen als die der anderen.

Alle Menschen entstammen demselben Ursprung, Männer aus Adam, Frauen aus seiner Seite – das galt definitiv nicht für ihn. Nein, Lone konnte nicht der gleichen Quelle entspringen, denn für den Rest der Welt war er die Schlange im Baum, ein aussätziger Fehler, unangenehm und störend. Ein No-Chip. Wie kann man nur ein No-Chip sein, der Chip bringt doch nur Vorteile, nur Vorteile, nichts anderes. Es gibt keinen rationalen Grund dagegen, keinen einzigen… keinen einzigen!

„Ayumi“, murmelte Lone und sah ihre Augen vor sich. Er kannte sie doch nicht einmal, wieso fühlte er sich dann derart verbunden mit ihr, so als seien sie gemeinsam aufgewachsen, als wisse er über all ihre Geheimnisse Bescheid, über ihre Schwächen, Stärken und Marotten, einfach über alles. So als seien sie… Freunde. Oder sogar mehr.

Der Kodex. Man hatte ihm eingebläut, dass man den Kodex befolgen musste, um jeden Preis und ohne Ausnahme. Aber der Kodex verbat ihm, sie zu sehen, sie aufzusuchen, sie zu beobachten.

Auf einmal stand er am Bahnsteig. Hajimari-Station. Es war eine lange Fahrt und ein genauso langer Fußweg nötig, doch gut eine Stunde später erblickte er ein weiteres Mal die hochgewachsenen Kiefern, die den Eingang zum Friedhof markierten. Er war ohne Sinn und Verstand hergekommen, ohne Plan. Er wusste nur eins, er wollte ihr nahe sein, wissen, dass sie sich nur wenige Meter von ihm entfernt befand.

Er erinnerte sich an eine kleine Parkbank, die nur zwei Häuser von dem ihren entfernt auf der Gegenüberliegenden Straßenseite stand. Ihm gefiel die Vorstellung sich dort hinzusetzte und die Wohnung zu sehen, in der sie schlief, ganz einfach ihre Nähe zu spüren.

Als er um die Ecke bog und die Bank wiedererblickte, saß dort eine junge Frau. Die Hände um den Körper geschlungen, schien sie schon sehr lange zu warten und im Stillen die Kälte zu ertragen. Es war Ayumi.

Lone blieb wie angewurzelt stehen. Er sah K vor seinem inneren Auge auftauchen, Kid und die anderen. Der Kodex verbat es, einen Jouhatsu erneut zu treffen. Dann glaubte er, den sanften Druck an seiner Hand zu spüren. Das leichte Kitzeln, wie damals die Berührung des Marienkäfers.


Lone hielt auf die Bank zu und setzte sich neben sie. Beide blickten geradeaus. Erst nach einer gefühlten Ewigkeit, begann Ayumi zu sprechen.

Was sie sagte, konnte Edgar nicht hören, der bemerkt hatte, dass sich Lone davonstahl. Er hatte ihn verfolgt und versteckte sich nun hinter einem der großen Kiefernbäume. Vom Eingang des Friedhofs aus musste er das Treffen eines Yonige-Ya und einer Jouhatsu beobachten.

„Verdammt Lone“, flüsterte er in die Nacht hinein, „Verdammt!“

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