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Jouhatsu | Folge 8 - Das große Ganze

Dunkler, grauer Rauch steigt auf, formt sich zu Wolken, die bauschen und schemenhafte Gefilde bilden, nur um im nächsten Augenblick für immer zu verschwinden.

Grey Dog grinste in die Schwärze hinein, während er sich seinen braunen Mantel enger schnürte und die Messer spürte, die er darunter verbarg. Die Tür hinter ihm öffnete sich, ein Mann trat ein.

„Grey Dog, wir sind soweit.“

„Gut, dann schlagen wir zu.“

„Wer ist es? Der neuste Jouhatsu von K?“

Grey Dog begann zu lachen. Er drehte sich um, doch ob der Dunkelheit konnte man sein Gesicht nicht klar erkennen. Nur die Augen schienen hell und gelb zu leuchten, wie der stierende Blick eines schwarzen Wolfes.

„Nein, das ist Ayumi. Wir nehmen jemand anderes. Der Vertrag mit dem Jouhatsu wurde bereits vor fünf Wochen aufgesetzt.“

„Was ist mit ihm?“

„Er? Oh, sie hat mit ihm keinen Smart Contract abgeschlossen, wahrscheinlich, um ihn von mir abzuschirmen. Sie weiß, was uns verbindet.“

„Hm, verständlich. Wie war sein Name noch gleich?“

Grey Dog wandte ihm wieder den Rücken zu. Er nahm einen tiefen Zug von der Zigarre, lachte dann abermals laut und schallend auf, ehe er den Kopf absenkte und antwortete:

„Lone. Sein Name ist Lone.“


Der Schlag traf Lone brachial am Kiefer. Kurz sah er Sterne, schwankte zur Seite, konnte sich gerade noch abfangen und verhindern, mit dem Kopf auf den Betonboden aufzuknallen. Er brauchte einige Sekunden, um die Schwärze zu vertreiben, die von allen Seiten in sein Blickfeld drängte.

„Du bist immer noch zu schwach!“, keifte Kid, der die großen Boxhandschuhe trug und es sichtlich genoss, Lone eine Abreibung nach der anderen zu verpassen. Wut kochte in ihm hoch, doch er wollte es Kid nicht zeigen, wollte ihm diesen Triumph nicht gönnen. Wacklig kämpfte er sich zurück auf die Beine, hob die Fäuste und versuchte sich an das zu erinnern, was ihm Gronk und die anderen Seeder in den letzten Wochen beigebracht hatten. Auf Abstand achten, Gegner lesen, nicht verfrüht oder aus Angst vor Schmerzen reagieren, nicht „fischen“ also nicht von Finten des Gegners verleiten lassen, im richtigen Moment nach vorn gehen und… Gerade als er diese Liste vor seinem inneren Auge abarbeite, traf ihn auch schon der nächste Schlag. Dieses Mal schaffte er es nicht, sich aufzufangen. Er lag am Boden.

„Schwach!“, maulte Kid. Er lehnte sich über Lones Körper und starrte ihn grimmig an.

„Das ist das Problem. Das Problem, wenn wir draußen wären, wo es kein Spiel mehr ist“, er tippte sich mit dem Handschuh auf den Verband, der seit der Begegnung mit Ayumis Vater vor zwei Wochen seinen Kopf zierte, „Weil man sich dann nicht auf dich verlassen kann. Weil ich mich nicht auf dich verlassen kann!“

Er schüttelte verächtlich den Kopf, ging zu dem Tisch hinüber, wo einige Wasserflaschen parat standen und rief: „Aber gut, was erwarte ich schon von dir. Du hast keine Ahnung was Familie bedeutet, du hast deine ja im Stich gelassen.“

Kid griff nach eine der Wasserflaschen, hob sie zum Mund und ließ sie fallen. Er sackte zur Seite hinweg und begann laut zu husten. Lone, der ihn soeben mit dem Ellenbogen in die Rippen geschlagen hatte, ließ nicht nach, besprang ihn und begann wie besessen auf ihn einzuprügeln. Zwei Schläge landeten in Kids Gesicht, ehe er die Beherrschung zurückerlangte, Lone umschubste, ihn seinerseits bestieg und zu schlagen begann.

„ES REICHT!“

Beide, Lone und Kid, erstarrten gleichzeitig und blickten zum Eingang. K stand dort. Ihr Mantel flatterte um ihren Körper, als stünde sie an Bord eines mächtigen Schiffes, dass durch aufgepeitschte See navigierte. Gronk hielt sich leicht versetzt hinter ihr versteckt und blickte besorgt zu den beiden Streithähnen hinüber.

„Kid. Grey Dog hat einen unserer letzten Jouhatsu entführt. Wir wissen nicht, woher er die Informationen hat, es ist eigentlich unmöglich.“ Aus Kids Gesicht wich die Farbe. Er ließ von Lone ab und begann zu murmeln: „Das geht doch gar nicht. Die Contracts sind sicher? Was will er mit ihnen?“

„Wahrscheinlich will er mit ihnen erneut Chaincoins generieren. Weil es Jouhatsu sind, fällt es den Behörden nicht auf, wenn sie einfach so verschwinden. Er muss nicht einmal seine Spuren verwischen. Wir müssen sofort aufbrechen, vielleicht ist es noch nicht zu spät.“

„Ja!“, Kid eilte zu K und Gronk. Hinter ihm sprang Lone auf und tat es ihm gleich.

„Nein!“, sagte K und warf ihm einen grimmigen, entschlossenen Blick zu.

„Du bist noch nicht so weit!“

„Was?“, stotterte Lone. Er war leicht benommen, wusste aber nicht so recht, ob der Schwindel vom Schlagabtausch mit Kid oder von K‘s Worten herrührte, „Du hast gesagt, dass ich…“

„Wenn du soweit bist. Du bist noch nicht soweit.“

Lone wollte zu schreien beginnen. Er wollte K sagen, was er von ihr und dieser ganzen Familie hielt, dass er sich nicht länger wie einen Idioten behandeln ließ, dass er keine Sekunde länger warten würde. Aber da hatte die sich bereits umgedreht und die graue Eisentür laut donnernd ins Schloss geworfen.

Dass Lone schrie, verzweifelt und wutschnaubend zugleich wie ein verwundetes Tier, konnte sie gar nicht mehr hören.


Ihr Körper bewegte sich auf dem seinen. Wellenartig, geschwungen, im goldenen Schnitt. Elegant, schön und geheimnisvoll wie die Kurven einer Abgottschlange. Ihre großen Brüste hoben und sanken sich im Takt ihres Atems, der immer hektischer und energischer wurde, den Rhythmus für die Wogen der Lust vorgab, die sie ihnen beiden schenkte. Lones Kopf leerte sich, während Ayumi immer lauter wurden. Sie war so wunderschön, wenn sie ihre Augen öffnete, ihn bewundernd ansah und küsste, als gäbe es keinen anderen Menschen auf dieser Welt.

Lone war direkt zu ihr gegangen. Er wusste nicht, wohin mit seinen Gedanken. Du weißt nicht, was Familie bedeutet, du hast deine ja im Stich gelassen. Noch während er hektisch erzählte, hatte Ayumi damit begonnen, ihn auszuziehen. Er war in den letzten zwei Wochen fast jede Nacht bei ihr gewesen. Schlaf brauchte er keinen mehr, sie gab ihm mehr Energie als es die kühnsten Träumereien zu Stande gebracht hätten.

Jetzt lag ihr Kopf auf seiner Brust und die Gedanken, die ihm zuvor schier den Verstand geraubt hatten, bahnten sich ihren Weg zurück in sein Bewusstsein. Ihr entging das nicht. Sie stützte sich auf dem Ellenbogen ab und betrachtete Lone eine Weile. Ihre dunkelbraunen Augen strahlten hell und verständnisvoll. Sie richteten nicht, fällten kein Urteil. Zumindest fühlte es sich so an.

„Was hat er gesagt?“, fragte sie leise und legte dabei ihre flache Hand auf Lones Brust, genau an die Stelle, unter der sein Herz pochte.

„Dass ich meine Familie im Stich gelassen hab. Weil ich ein Jouhatsu werden wollte. Und ein No-Chip bin. Der übelste Teil des Abschaums eben.“ Lones Herz schlug schneller.

„Hm… Du bist aber doch schon sehr lange ein No-Chip. Und eigentlich gar kein Jouhatsu. Warum macht dich das so wütend?“, Lones Herz explodierte beinahe, so als wehre es sich mit jedem Schlag gegen den Druck, den die fremde Hand ausübte, doch Ayumi bewegte sie keinen Millimeter.

„Warum?“, wiederholte sie. Lone versucht, ihren Blicken auszuweichen, starrte schräg links an ihr vorbei ins Leere zuckte irgendwann mit den Achseln, doch sein Herz pochte weiter.


„Wie… Wie war sie so?“


Stille. Sein Herz blieb stehen. Nicht lange. Vielleicht für eine halbe Sekunde. Er kämpfte dagegen an, rettete sich schließlich in eine Frage hinein: „Wen meinst du?“

„Deine Mutter?“

„Woher weißt du von ihr?“, stammelte Lone und konnte nicht verhindern, dass seine Augen rot und glasig wurden.

„Ich glaube… ich weiß es einfach. Man erkennt den Schmerz, den man selbst einmal durchlebt hat, wenn man ihn bei anderen Menschen sieht. Sie müssen es einem nicht einmal sagen, man weiß es einfach.“

„Ha.“ Lone schluckte und versuchte mit aller Kraft, gegen die Tränen anzukämpfen, die seine Augen füllten. Doch Ayumi drückte ihm weiterhin mit der flachen Hand sanft auf das Herz. Sie würde ihn nicht loslassen.


Lone erzählte ihr alles. Er erzählte ihr von seiner Mutter. Dass sie es war, die ihn davon abhielt, sich Chippen zu lassen. Sie wollte nicht, dass seine Körperfunktionen von der Regierung überwacht wurden, um damit der Ausbreitung von Pandemien entgegenzuwirken, welche die Menschheitsgeschichte der letzten 50 Jahre formten und in eine gänzlich neue Richtung drängten. Dass sie es war, die für ihn die gesetzlichen Medikamente einnahm, die vorgeschrieben waren, um sich im öffentlichen Raum frei bewegen zu können, um einkaufen zu gehen, gewisse Stadtteile zu betreten und akzeptiert zu werden. Dass Lone sich oft mit ihr gestritten hatte, weil ihn das schlechte Gewissen plagte und er sie diese Last nicht ganz allein tragen lassen wollte. Aber sie beharrte darauf. Auch dann noch, als ein neues, vorgeschriebenes Medikament zu Komplikationen bei ihr führte.

Es war mittlerweile einen Monat vergangen, seitdem sie ihm auf dem Sterbebett das Versprechen abgenommen hatte, dass er sich auch nach ihrem Tod keinen Chip einpflanzen lassen werde. Dass er weiterkämpfen solle. Dann erzählte sie ihm von seinem Vater. Dass er ihm unbedingt vergeben müsse. Dass er ein Jouhatsu war. Jouhatsu. Das war das letzte Wort, das sie an ihn richtete. Dann starb sie, im Zimmer dieses Krankenhauses.

„Miyu… Meine Mutter hieß Miyu“, flüsterte Lone zum Schluss.

Ayumis Kopf lag auf seiner Brust, er konnte ihr Gesicht nicht sehen, spürte aber, dass auch sie geweint hatte.

„Weißt du Lone…“, flüsterte sie und umklammerte ihn dabei wie damals ihren Jutebeutel, als er sie das erste Mal an diesem Busbahnhof gesehen hatte, „Man darf nicht vergessen, was man ist. Nur ein Opfer für das große Ganze. Und ich glaube, für deine Mutter warst du das große Ganze.“

„Was meinst du?“

„Ach nichts…“, sie richtete sich auf und blickte ihm direkt in die Augen. Dann streichelte sie ihm einmal zärtlich über die Wange.

„Es tut mir sehr leid, was dir passiert ist. Aber vielleicht…“, sie zögerte einen Moment und schien über etwas nachzudenken, als koste ihr der nächste Schritt große Überwindung, „Vielleicht, musst du es auch einfach selbst in die Hand nehmen.“

Als er sie fragend ansah, fügte sie hinzu: „Es gibt einige Privatdetektive, die nur damit beschäftigt sind, Jouhatsu zu suchen. Sie werden von Angehörigen beauftragt, die erfahren möchten, was mit ihren geliebten Familienmitgliedern passiert ist. Die meisten wissen ja nicht einmal, ob sie Selbstmord begangen haben oder einfach geflohen sind. Viele wünschen sich nur irgendein Lebenszeichen. Ich habe einen von diesen Privatdetektiven schon einmal gesehen, er kannte meinen Vater, warte.“

Sie griff nach ihrem Smartphone, tippte etwas in die Suchleiste des Browsers und streckte ihm wenig später die Website eines Mannes entgegen, der sich Hiroshi Takara nannte. Auf einem Foto lachte einem das Gesicht eines alten, glatzköpfigen Mannes entgegen, mit buschigen, grau-weißen Augenbrauen.

„Vielleicht weiß er etwas über deinen Vater und… eventuell sogar über diesen Grey Dog.“

„Hm, vielleicht… Danke“, murmelte Lone und betrachtete noch eine Weile das Gesicht Hiroshis. Dann nahm er Ayumi das Handy aus der Hand, legte es zur Seite, zog sie an sich heran und umarmte sie. Er wollte sie nie wieder loslassen.

Als K spät in der Nacht zurückkam, hatte sie herzlich wenig Lust irgendjemanden zu sehen, geschweige denn, mit jemanden zu sprechen. Sie starrte in das Feuer ihres Kamins, umschloss mit der rechten Hand die mächtige Kette um ihren Hals und grübelte. Natürlich waren sie zu spät gekommen. Von dem Jouhatsu fehlte jede Spur, ebenso von Grey Dog oder seinen Männern. Sie musste reagieren, konnte nicht zulassen, dass noch mehr ihrer Jouhatsu dieser Bedrohung zum Opfer fielen. Woher hatte er überhaupt seine Informationen? Egal wie sie es drehte oder wendete, es ergab einfach keinen Sinn.

„Außer jemand redet“, hörte sie sich flüstern und erschrak sogleich vor ihren eigenen Worten. Sie schüttelte den Kopf und sagte zu sich selbst: „Familie ist alles und wir alle sind Familie!“

Hinter ihr öffnete sich die Tür. Sie wirbelte herum und erblickt Edgar.

„Tut mir leid, ich habe gerade wirklich keine Zeit“, begann sie, doch Edgar schloss die goldene Tür hinter sich, nahm seine Brille ab, blickte schuldbewusst zu Boden und erwiderte.

„Es ist leider dringend. Ich muss mit dir reden.“ Er hob den Kopf und seine Mine verfinsterte sich.

„Es geht um Lone!“

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