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Zeitlos Sehen



Allein und schnellen Schrittes, weil er schon wieder viel zu spät war, hastete er die Straße entlang und nuschelte mit einer Zigarette im Mund in das Telefon hinein. Er hatte wie fast an jedem Tag den Umweg über die Grundschule genommen. Vater und Sohn, gemeinsam am Morgen, so wie es sein sollte.

„Nein, nein, nein, auf gar keinen Fall!“

Nach einer kurzen Pause, in der er zuhörte und missmutig gen Himmel blickte – das Wetter war widerlich, die Wolken grau, kalt und ein nadelartiger Sprühregen durchnässte seinen schwarzen Mantel – begann er von neuem zu erklären: „Nein, hör mir zu, einfach nein!“

Wieder musste er kurz warten und das Gerede über sich ergehen lassen, ehe er zum Konter ansetzte.

„Ich weiß, dass du extra für mich einen Termin gemacht hast, aber es geht nicht, es wird nichts ändern! … Oh, deine Schwester hat das gesagt, na dann ist ja alles klar, wieso unterstützt du sowas? … Nein, bin ich nicht, aber es ist schon schwer genug mir Zeit für den Alltag aus der Seite zu schneiden und du willst jetzt von mir, dass ich … ich weiß, dass wir nicht jünger werden und dass…“

Sie fiel ihm ins Wort und nannten nun doch den echten Grund für den sonderbaren Vorschlag. Obwohl es ihm einen kurzen Stich versetzte, ließ er sich gar nicht erst darauf ein, schüttelte nur den Kopf, warf die halb aufgerauchte Zigarette auf den Boden und schnaubte: „Ich hab aber keine Zeit, weil ich arbeiten muss und nur weil du dir deswegen keine Sorgen mehr machst, heißt das nicht…“ Er wollte eigentlich weiter poltern, doch hielt ihn der gleichmäßige Freiton davon ab, der ihm jetzt ins Ohr donnerte.

„Fuck!“, murmelte er, während er das Handy wegsteckte und auf seiner Armbanduhr die Zeit ablas. Er überbrückte hastig die verbleibenden Meter bis zu dem modernen Ladengeschäft, richtete sich dabei ein letztes Mal das schwarze, zur Seite gegelte Haar und wischte sich über das vom Regen nassfeucht gewordene Gesicht. Gerade als er die Glastür zum Zeitlos Sehen - Optiker aufstoßen wollte, hielt er für einen Augenblick inne. In der matten Glasscheibe meinte er sein verschwommenes Spiegelbild zu erkennen. Er sah seine kantigen Züge, die glattrasierten Wangen und die dunklen Augenringe, die Gottseidank von der Brille etwas kaschiert wurden. Kopfschüttelnd und mit einer gehörigen Portion Wut im Bauch, trat er ein.

„Ah, der Herr Thomas Polaska höchst persönlich, eine Freude, wirklich schön, dass Sie da sind!“, begrüßte ihn die junge Optikerin namens Tamara, die ihn bei Zeitlos Sehen immer bediente. Sie besaß langes, blondes Haar und hatte blaue Augen, die dank einer schlanken Designer-Brille genau die Aufmerksamkeit erhielten, die sie verdienten. Tamara trug einen schlichten Blazer und lächelte Thomas an, als hätte er ihren Tag durch seine bloße Anwesenheit gerettet.

„Na ja, meine Brille ist mittlerweile ganz schön ramponiert, kann ich nix dran ändern“, erwiderte Thomas und zog sich den Mantel aus, unter dem sein grauer Anzug mit dunkelroter Krawatte zum Vorschein kam. Ohne zu zögern, ging er auf den hölzernen, kleinen, quadratischen Tisch in der Mitte des Raumes zu und setzte sich an seinen gewohnten Platz. Denn das Zeitlos Sehen besaß eben nur diesen einen. Generell schien es anders zu sein als jedes Optikgeschäft, das existierte: Der Verkaufsraum war in etwa so groß wie ein Wohnzimmer, es gab keine Kasse, keine Aufsteller und keine Werbeplakate. Die Wände bestanden aus gläsernen Vitrinen, in denen die verschiedenen Brillen mit gebührendem Abstand zueinander drapiert waren. Der Tisch ganz in der Mitte blieb neben den zwei Stühlen das einzige Möbelstück im Geschäft. Lediglich eine dunkelgrüne, kreisrunde Filzmatte lag darauf, die man dazu gebrauchen konnte, um die ausgewählten Fassungen abzulegen. Es gab auch nur zwei Türen: Die eine zur Fußgängerzone aus mattiertem Glas und eine weitere, dem Eingang direkt gegenüberliegend, aus dunklem Holz.

„Aber, aber, Herr Polaska, eine neue Brille ist wie ein neuer Lebensabschnitt, ich finde das schon sehr aufregend!“, sagte Tamara und strahlte dabei ihr Gegenüber an, als hätte der ihr gerade ein besonders gelungenes Geschenk gemacht.

„Na, wenn Sie das sagen…“, seufzte Thomas und konnte sich gerade so davon abhalten mit den Augen zu rollen, „…aber mir ist auch dieses Mal das Alte lieber als das Neue. Geben Sie mir einfach dieselbe Fassung nochmal und alles ist gut!“

Es wurde still. Sehr still. Eine weitere Eigenheit des Zeitlos Sehen: es gab keine Musik und obwohl sich das Ladengeschäft in einer viel besuchten Fußgängerzone befand, vermochte kein Ton von draußen in den Verkaufsraum einzudringen. Thomas vermutete schon immer, dass die Besitzer viel Geld für die Schalldämmung ausgegeben haben mussten, was er als durchaus sinnvolles Investment erachtete, auch wenn er nicht einmal wusste, wer die Besitzer überhaupt waren. Er kannte nur Tamara. Sie war diejenige, die ihn beriet und unangekündigt konnte man beim Zeitlos Sehen ohnehin nicht vorbeikommen; alles lief nur über Exklusivtermine ab. Thomas wollte einmal beim Shopping spontan vorbeischauen, da war aber die Tür zugesperrt, das Licht aus und der Laden verlassen gewesen – durchaus ungewöhnlich für einen Freitagnachmittag, wie er fand.

„Wollen Sie nicht etwas anderes ausprobieren? Wir haben viele neue Modelle, die Sie bisher noch nie gesehen haben“, fragte Tamara und deutete um sich.

„Nein, nein…“, hüstelte Thomas, der in Gedanken eigentlich ganz woanders war und den Termin so schnell wie möglich hinter sich bringen wollte, „… geben Sie mir einfach die Alte, das gleiche Modell nochmal in neu!“ Er zog sich die Brille mit markantem, schwarzem Rahmen von der Nase und legte sie unbedacht auf den dunkelgrünen Filz.

„Sind Sie denn glücklich mit dieser Brille?“

„Ja, sie ist nur etwas alt geworden und hat einige Kratzer abbekommen, deswegen… Bitte nochmal genau die gleiche, haben Sie die noch?“

„Natürlich, Herr Polaska, wir haben jede Brille, die Sie sich wünschen. Wie sieht es mit ihrem Sehvermögen aus, wir sollten das noch einmal überprüfen.“

„Nein, nein“, erwiderte Thomas hektisch und mit einem verstohlenen Blick auf seine Uhr, „das hat sich nicht verändert, ich sehe immer noch genauso gut, Sie können also auch dieselben Stärken in den neuen Gläsern nehmen.“

„Ist das so?“

„Ja und ich habe es etwas eilig, deswegen…“ Thomas lächelte gequält und fuhr sich dabei über die Anzughose.

„Ich verstehe!“, antwortete sie und sah ihn mit strahlend blauen Augen an. Sie erhob sich, nickte ihm zu und erklärte: „Aber leider muss ich Sie doch bitten, zumindest eine andere Brille anzuprobieren, kommen Sie!“ Bestimmt drehte sie sich um, hielt auf die Tür aus dunkelbraunem Holz hinter ihr zu und bugsierte im Gehen einen silbernen Schlüsselbund aus der Blazer-Tasche, an dem mindestens zwei Dutzend kleine Schlüssel hängen mussten. Routiniert pickte sie einen davon heraus und führte ihn ins Schloss. Gerade als Thomas „Tut mir leid Tamara, aber ich habe wirklich keine Zeit“ sagen wollte, war diese schon verschwunden.

„Tamara?“, rief er ihr hinterher, doch es kam keine Antwort. Seufzend und kopfschüttelnd erhob er sich und dachte kurz darüber nach, den Laden einfach zu verlassen. Andererseits hatte ihn Tamara bisher immer gut beraten und er wusste ja, dass sie sich nur besonders viel Mühe geben wollte. Also trottete er widerwillig auf die Tür zu und überschritt die Schwelle.

„Da sind Sie ja!“

„HIMMEL!“, schrie Thomas und wirbelte herum. Er hätte nicht gedacht, dass Tamara gleich schräg hinter der Tür auf ihn warten würde. Mit klopfendem Herzen fuhr er sich einmal über das Gesicht und bemerkte, dass er seine Brille im Verkaufsraum liegen gelassen hatte. Er wollte gerade kehrt machen, als Tamara hinter ihm bereits die Tür verschloss.

„Ach, die werden Sie nicht brauchen, Sie probieren ja neue an“, antwortete sie, als hätte sie seine Gedanken hören können.

„Wo sind wir hier denn? Das sah bei Ihnen bisher immer anders aus!“, fragte Thomas, dem es schwerfiel seine Umgebung genau zu erkennen, weil für ihn das meiste leicht verschwommen war. Sie standen in einem langen, dunklen Korridor. Der Boden schien – genauso wie die Wände und Decke – aus beinahe schwarzem Mahagoniholz gefertigt zu sein. In regelmäßigen Abständen befanden sich links Türen, die genauso aussahen wie die, durch welche sie den Gang betreten hatten.

„Oh, ja, die Besitzer haben umgebaut. Kommen Sie“, erklärte Tamara und entzündete eine alte Sturmlampe, die sie von einem Haken an der Wand abgenommen hatte.

„Was ist das denn?“, fragte Thomas und betrachtete die Lichtquelle in ihrer Hand wie ein Stück verdorbenen Fisch.

„Toll, oder? Richtig schöner Vintage-Look“, schwärmte sie und deutete auf das dünne Glas, das in eine silberstrahlende Basis mit Blumenverzierungen eingelassen war und die Flamme beschützte, die ihnen Licht spendete. Mithilfe eines geschwungenen Henkels an der Seite konnte Tamara die Lampe bequem halten, fast wie eine Tasse mit dampfenden Kaffee.

„Ich weiß nicht, ist das nicht ein bisschen gefährlich?“, hakte Thomas nach und deutet auf das Holz, das sie umgab.

„Oh… ja vielleicht ein bisschen, aber die Besitzer haben sich die Lampe selber ausgesucht. Hat ewig gedauert so ein Schmuckstück zu finden und ich passe ja auch auf“, antwortete sie mit einem Augenzwinkern, drehte sich um und ging voran. Bei jedem Schritt knarzte das Holz leise unter ihren Füßen wie uralte Dielen in einem betagten Bauernhaus. Nach einigen Metern bogen sie um eine Ecke, hinter welcher der Korridor in selber Gestalt noch viele Meter weiter verlief, ehe er sich erneut in zwei Richtungen gabelte.

„Das ist ja riesig, wie können Sie sich diese ganze Fläche leisten?“, fragte Thomas und staunte über die vielen Türen, an denen er erst jetzt die kleinen Messingschilder bemerkte, die bei jeder genau auf Augenhöhe angebracht worden waren.

„Oh, um ehrlich zu sein, weiß ich das selber nicht so genau, ich arbeite hier ja nur, das müssten Sie schon die Chefs fragen“, erwiderte Tamara, die immer wieder die Türen überprüfte, so als würde sie nach etwas ganz bestimmten Ausschau halten.

„Ah, da ist es ja!“, triumphierte sie schließlich und blieb stehen. Thomas, den die schiere Größe dieses Optikergeschäfts zunehmend beeindruckte, wäre fast in Tamara hineingelaufen, schaffte es nur in letzter Sekunde auszuweichen, entschuldigte sich reflexartig bei ihr und erkannte dann das Messingschild auf der Tür vor ihnen.

„Was zur Hölle…“, murmelte er, trat vorsichtig näher und kniff die Augen zusammen, weil er größte Mühe damit hatte, das Geschriebene darauf zu entziffern. Dennoch erkannte er das Schriftbild sofort, tausende und abertausende Male hatte er es schon zuvor gesehen, immer auf Dokumenten und Verträgen und Zeugnissen, die ihn betrafen. Nachdem er trotz seiner verschwommenen Sicht auch den letzten Zweifel abgeschüttelt hatte, drehte er sich entsetzt zu Tamara um und fragte mit gerunzelter Stirn: „Warum steht da mein Name?“

„Oh, ganz einfach“, antwortete Tamara freudestrahlend, so als dürfte sie einem Geliebten nun endlich von einer lange vorbereiteten Überraschung erzählen, „wir haben für jeden unserer Kunden einen eigenen Raum. Das hier ist Ihrer, deswegen steht auf der Messingplakette Ihr Name, Herr Thomas Markus Polaska“

„Ich benutze meinen Mittelnamen doch gar nie“, murmelte Thomas und fuhr dabei mit dem Zeigefinger über die eingravierte Schrift auf dem fahlen Metall.


Den Rest der Geschichte gibt es zum Anhören hier:


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