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Jouhatsu | Folge 3 - Der Name

Ein Mann namens Gronk saß in einem Van und trommelte nervös auf dem Lenkrad herum. Er starrte besorgt in die finstere Nacht. Die beiden Seeder hätten eigentlich längst zurück sein müssen. Der Plan lautete, spätestens eine Stunde nach Anlaufen der Mission wieder verschwunden zu sein. Was war da drin nur passiert? Schon wieder Grey Dog? Wenn ja, dann waren die beiden mit absoluter Sicherheit tot. Aber die Leichen… die müsste man unbedingt evakuieren. Oder handelte es sich doch nur um ein marginales Problem, das ihren Zeitplan geringfügig durcheinander wirbeln würde? So oder so kam er nicht drumherum… er musste K informieren!


Als Lone das Zimmer betrat, verstummte die leise Männerstimme, die bis zu diesem Moment eindringlich an seine Ohren drang. Der Mann, zu dem sie gehörte, drehte sich um und musterte den Störenfried, was Lone nicht weiter zur Notiz nahm. Zu viele Reize prasselten auf ihn ein und ließen ihn mit offenem Mund und weit geöffneten Augen zurück.

Der Raum unterschied sich von dem vorangegangenen Korridor wie die Nacht vom Tag. Orangerote Tücher verhüllten die Wände und wurden regelmäßig von eingerahmten, barocken Gemälden unterbrochen. Lones Aufmerksamkeit fiel auf die kostbaren und gleichzeitig sonderbaren Gegenstände, die dem Raum einen eigenen Charakter verliehen: ein hüfthoher Globus, ein wunderschöner Plattenspieler mit riesigem Trichtergrammofon und eine Couchgarnitur mit edlen, reichbestickten Bezügen. Schließlich, vor einem großen, offenen Kamin und an einem prunkvollen Schreibtisch sitzend, erblickte Lone sie.

Als die Frau den Kopf hob und ihm direkt in die Augen sah, wich er instinktiv einen Schritt zurück. Ihre Präsenz erfüllte den gesamten Raum, schien einen förmlich zu erdrücken und fühlte sich ein bisschen so an, als blicke man einer herannahenden und übermächtigen Naturgewalt entgegen. Sie trug einen großen, weißen Admiralsmantel mit goldenen Schulterplatten, den sie sich wie einen Umhang über die Schultern gelegt hatte. Die Hände verschränkte sie ineinander. Ihr Haar war von einem besonders kräftigen Schwarz und streng zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, wobei ihre Seiten komplett rasiert waren. Sie paffte an einer Zigarette, die sie unbekümmert zwischen den Lippen hielt.

„Na, wen haben wir denn da?“, nuschelte sie mit rauer Stimme und die Zigarette zitterte bei jedem ihrer Worte.

„Er wurde heute gespottet“, sagte der Mann, der Lone Einlass gewährt hatte und gerade hinter ihm die goldene Tür verriegelte.

„Hm… ein ungünstiger Moment, Kid“, sagte sie, erhob sich, griff nach der Zigarette, nahm sie aus dem Mund und blies eine große, weiße Rauchwolke aus. Sie wandte sich dem Mann zu, der neben ihr stand und sich hitzig mit ihr unterhalten hatte, bis Lone das Zimmer betreten hatte.

„Edgar, wir müssen das hier ein andermal besprechen.“

„Na… Natürlich!“, stotterte der und rückte sich dabei seine Brille mit kreisrunden Gläsern zurecht. Er war relativ klein, hatte braunes, krauses Haar und wirkte etwas eingeschüchtert. Ein Gefühl, dass Lone sehr gut nachempfinden konnte. Fragen über Fragen stapelten sich in seinem Kopf, türmten sich wankend auf und drohten, ihn unter sich zu begraben.

„So mein Lieber, dann komm doch mal her!“, befahl die Frau und unterbrach damit die aufgehetzte Stimme, die in Lones Innern nach Antworten flehte.

„Keine Sorge, du bist kein Gefangener und wir keine Gefahr“, fügte sie grinsend hinzu, nachdem sich Lone keinen Millimeter vom Fleck gerührt hatte. Er schluckte und blickte neben sich zu dem Mann auf, den die Frau Kid genannt hatte. Der nickte ihm grimmig zu.

Mit pochendem Herzen näherte sich Lone dem Schreibtisch und blieb kurz davor stehen. Jetzt erst fiel ihm die mächtige Kette auf, die sich die Frau wie ein zu groß geratenes Schmuckstück um den Hals geschlungen hatte. Jedes einzelne Glied war beinahe faustgroß und hätte damit eher in einen nach Sardinen stinkenden Tankerhafen gepasst, als an den Hals einer Dame.

„Gut, sehr gut… also, ich werde dir jetzt kurz erklären, wer wir sind, warum du hier bist und wie deine Optionen aussehen. Es ist besser, wenn du mich dabei nicht unterbrichst, aber du scheinst ohnehin ein schweigsamer Mensch zu sein, richtig?“

Lone nickte. Er konnte die Augen nicht von seinem Gegenüber abwenden, von ihren dunklen Augen, dem laschen Grinsen, der Aura, die einem gebot zu schweigen und unmissverständlich vermittelte, dass man sich ihr lieber unterordnete.

„Mein Name ist K. Mir gehört diese Yonige-Ya. ‚Yonige-Ya‘ sind Unternehmen, die Menschen unterstützen, die Jouhatsu werden wollen. Weißt du, was ein Jouhatsu ist?“

Lone schüttelte den Kopf.

„Hm, nun gut“, K nahm einen tiefen Zug von ihrer Zigarette, „Jouhatsu gab es schon immer, aber traurigerweise – oder für uns glücklicherweise – heute mehr als früher. Wenn ein Mensch nicht mehr konnte. Wenn er aus seinem Leben fliehen wollte oder sogar fliehen musste, dann wurde er zum Jouhatsu. Er verschwand einfach, von heute auf morgen – verabschiedete sich von seinem alten Leben und begann ein neues, an einem anderen Ort, in einer anderen Stadt oder auch in einer anderen Welt, wenn es sein musste. Es war ein Neuanfang für diejenigen, die nicht mehr weiterwussten. Früher waren es hauptsächlich Opfer von häuslicher Gewalt oder Menschen, die mit dem Arbeitsdruck oder mit Liebeskummer oder mit einem schamvollen Ereignis nicht mehr zurechtkamen. Aber heute…“, sie kräuselte die Lippen, als befiele sie ein lästiger Schmerz, „Heute sind es vor allem viele No-Chips, die woanders unter fremder Identität von vorn beginnen wollen. Die es nicht mehr aushalten, dass sie als Aussätzige und dumme Menschen abgestempelt werden.“

Sie drückte ihre abgebrannte Zigarette energisch auf einem Aschenbecher aus Elfenbein aus, der neben allerlei Büchern, Münzen und Füllfederhaltern auf ihrem Schreibtisch lag.

„Wir helfen diesen Menschen. Wir sind eine Art spezielle Umzugsfirma, wenn du so willst. Wir organisieren ein neues Zuhause, einen neuen Job, an einem neuen Ort, weit weg von dem alten Leben und bringen dich dort hin. Vor allem aber… kümmern wir uns um dein Chip Problem.“

Das piepsen eines Telefons ertönte. Kid, der noch immer im hinteren Teil des Zimmers nahe der goldenen Tür stand, griff genervt in seine Tasche, kramte ein Handy hervor, welches in Form und Gestalt an die alten unzerstörbaren Nokia-Modelle erinnerte und stürmte hinaus.

„Tja, das war es im Großen und Ganzen“, fuhr K fort, während sie sich eine neue Zigarette ansteckte, „Dass du hier bist, bedeutet, dass dich einer meiner Leute gespotted hat. Dadurch, dass wir unter dem Radar fliegen müssen, um möglichst wenig Aufsehen zu erregen, wissen die allermeisten Menschen nicht, dass es uns gibt und dass sie unser Angebot nutzen können. Das ist natürlich ein Problem. Darum sind wir immer auf der Suche nach Menschen, die unter den aktuellen Bedingungen leiden, um ihnen so diskret wie möglich ein Angebot zu machen.“ Lone senkte den Kopf und betrachtete die Visitenkarte, die er noch immer in der rechten Hand hielt. Als könnte sie seine Gedanken lesen, fuhr K fort: „Ja, genau. Du bist einem meiner Spotter aufgefallen und hast die Karte bekommen, jetzt bist du hier. Die Frage ist nur, warum du der Einladung gefolgt bist und ob dieser Grund stark genug ist, dass du zu einem Jouhatsu werden willst.“

Sie sah ihn mit forschenden Augen an und stieß eine große Rauchwolke aus, die ihr Gesicht fast vollständig verdeckte. Der unterbrochene Blickkontakt gab Lone die Möglichkeit, sich für eine Sekunde darüber bewusst zu werden, was diese Frau namens K ihm soeben offenbart hatte. Eigentlich waren es viel zu viele Informationen gewesen. Menschen, die aus ihrem Leben verschwanden, um woanders ein neues zu beginnen, sich Jouhatsu nannten und dabei die Dienste von speziellen Unternehmen nutzten, den ‚Yonige-Ya‘ – es klang wie frei erfunden. Und doch stand Lone nun in diesem sonderbaren Raum, vor einer nicht minder sonderbaren Frau, nicht weit von einer U-bahnhaltestelle entfernt, die sich Hajimari nannte. Hajimari… er dachte an die Bedeutung dieses Wortes.

„Na, mein Junge, warum bist du hier?“, wiederholte K die Frage. Und als hätte jemand in Lones Inneren einen Schalter umgelegt, kamen all seine Gedanken zum Erliegen. Sie bröckelten in sich zusammen und offenbarten einen Mann. Er kannte ihn nur von alten Bildern her – erkannt hätte er ihn wohl nicht mehr, selbst wenn er vor ihm stünde. Er wusste nicht wie groß er war, wie alt, wie lieb, nett, gütig, kaltherzig oder großzügig er war. Er wusste nur, dass dieser Mann seit dem gestrigen Tag seine letzte Verbindung zur Vergangenheit darstellte. Seinen letzten Bezug zu dieser Welt.

Johatsu, hatte sie gesagt, dein Vater war ein Jouhatsu.

„Aber, aber, es… wird schon so schlimm nicht sein“, hüstelte K unbeholfen, als sie sah, dass an Lones Wange eine Träne hinunterlief. Lone war davon selbst überrascht. Er hob die Hand und fing den salzigen Tropfen mit dem Zeigefinger auf. Es fühlte sich kratzig an, kalt und feindlich. Lone musste an den Marienkäfer denken, den er auf genau dieselbe Weise gehalten hatte. Der Marienkäfer… das war immer ihr Lieblingstier gewesen.

„Ich bin ein No-Chip“, erwiderte er schließlich und wischte den Finger an seiner Jeans ab.

„Hm, das habe ich mir gedacht… Nun, dann nehme ich an, dass deine Entscheidung bereits gefallen ist und du ein Jouhatsu werden möchtest?“

Lone senkte für einen Moment den Kopf und betrachtet seine Hände. Am Ärmel seines Pullovers blitzte das eingebrannte X hervor. Schließlich sah er K direkt in die Augen, ballte die Fäusten und antwortete: „Ja!“

„Nun gut… dann brauchen wir zu aller erst deinen Namen.“

Als hätte sie einen Befehl ausgesprochen, zückte Edgar, der Mann mit den kreisrunden Brillengläsern, einen Laptop, klappte ihn auf seinem linken Unterarm gestützt auf und starrte Lone erwartungsvoll an. Als Lone zögerte, fügte K hinzu: „Keine Sorge, deine Daten sind bei uns sicher, wir werden sie nach Abschluss des Vertrags nicht mehr verwenden. Dürfen sie gar nicht mehr verwenden, das wäre gegen den Kodex.“

Obwohl Lone nicht verstand, was K mit Kodex meinte, antwortete er dennoch. Er hatte die Schwelle sowieso längst überschritten. Für ihn gab es kein Zurück mehr.

„Mein Name ist Lone.“ Edgar tippte mit der rechten Hand auf der Tastatur herum.

„Lone und?“, hakte K nach.

„Lone Abendroth.“

Das Tippen stoppte. Sogar das Knistern des Feuers schien auszusetzten. Alles kam zum Stillstand. Einzig die zu Boden fallende Zigarette erinnerte daran, dass die Zeit noch Gültigkeit besaß. K hatte Augen und Mund weit aufgerissen und starrte Lone fragend an: „Abend… hast du Abendroth gesagt?“

Unsicher, weil er befürchtete, etwas falsch gemacht zu haben, nickte Lone zögerlich. Die Kette um K‘s Hals rasselte laut, als sie um den Schreibtisch herumschnellte und bis auf wenige Zentimeter an Lone herantrat. Sie packte seine Arme, schüttelte ihn und sprach: „Abendroth, bist du dir absolut sicher?“

Hinter ihnen sprang die goldene Tür auf. Kid stürmte herein, wedelte mit dem Telefon in der Hand und erklärte außer Atem: „Gronk. Die zwei Seeder aus der anderen Stadt sind tot… Es ist Grey Dog.“

Trotz der eindringlichen Worte Kids, fixierte K weiterhin Lones Augen, als verberge sich dahinter ein Geheimnis, das nur sie entschlüsseln konnte. Nach endlosen Sekunden verzog sie das Gesicht zu einer genervten Fratze, fluchte, ließ von Lone ab und eilte zur Tür: „Wir müssen sofort handeln. Lone, du bleibst hier bei Edgar, ich muss mit dir sprechen, sobald ich zurückkomme!“

Die goldene Tür fiel ins Schloss. Das Feuer prasselte. Und Lone begriff nicht, was gerade geschehen war.

„Ehm, also… na ja, ich… also freut mich auf jeden Fall, dich kennenzulernen.“ Der Mann mit dem Laptop trat zögerlich an ihn heran und streckte ihm die Hand entgegen. Als Lone nicht reagierte und ihn nur völlig entgeistert anstarrte, fügte er hinzu. „Keine Sorge… es… es wird sich bestimmt alles klären. Ganz sicher.“

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