Zwei vermummte Gestalten huschten durch die Nacht, wie gesichtslose Dämonen vom Schatten verhüllt. Die kalten Mauern des Forschungsinstituts versperrten jedem ungebetenen Gast den Zutritt. Doch sie kamen vorbereitet. Ihr Plan war simpel: Ein Abwasserschacht sollte ihnen den Weg ins Innere preisgeben. Dann mussten sie sich unbemerkt über das Ventilationssystem zu Büro Nummer 231 durchschlagen. Wenn ihre Informationen stimmten, dann würde das Büro um diese Uhrzeit leer sein. Schließlich mussten sie nur noch die Festplatte an den Rechner stecken, warten, bis der Vorgang abgeschlossen ist und abhauen. Ende der Geschichte.
Bald fanden sie den ausgespähten Einstiegspunkt. Der dunkle Tunnel verlief unter dem Gebäude bis an eine Stelle, an der eine Luke nach oben in ein Kellergewölbe führte. Wenig später stiegen sie in den Technikraum ein und gelangten so in das Ventilationssystem. Schließlich standen sie in besagtem Büro, schlichen an den Rechner und wollten gerade die Festplatte anstecken, als einer von beiden stockte.
„Was ist?“
„Riechst du das?“
„Was?“
„Rauch!“
„Rauch?“
Da ertönte ein tiefes Lachen. Aus der hinteren Ecke des Büros trat ein großer, breitgebauter Mann mit braunem Mantel und weißen Haaren hervor. Die Dunkelheit hatte ihn bis gerade eben noch völlig verhüllt, jetzt offenbarte sie ihn wie eine grausige Prophezeiung.
„Grey Dog!“, japste einer der vermummten Gestalten, der andere schnellte nach vorn, wollte sofort zum Angriff übergehen, doch es war zu spät. Eine Minute später lagen beide tot am Boden.
Lone hatte bereits eine halbe Stunde an der Hajimari-Haltestelle verbracht und fragte sich mittlerweile, warum er überhaupt hergekommen war. Der U-Bahnhof gehörte zu einem der äußersten Randbezirke der Stadt, kein einziger Passagier wartete dort auf seinen Zug, er war allein. Frustriert und immer noch durchnässt inspizierte er ein letztes Mal die sonderbare Visitenkarte, so als könnte ihm das schweigende Papier vielleicht doch noch eine Antwort aussprechen.
Eine Kinderstimme ertönte. Lones Kopf zuckte nach links, wo eine Treppe an die Oberfläche führte. Ein kleiner Junge, vielleicht sechs Jahre alt, tapste mit hübschem Marienkäfer-Rucksack die Stufen hinunter und summte dabei das Kinderlied Toryanse:
Lasst mich hindurch, lasst mich hindurch! Wohin führt dieser enge Pfad?
Lone beobachtete ihn eine Weile. Dann, beinahe ohne darüber nachzudenken, sprang er auf und sprintete los. Es war ein Gefühl, das ihn anspornte, eine Vorahnung, die ihn beschlich, weil er sah, wie der Junge unbedacht herumtollte.
Sein Instinkt täuschte ihn nicht, denn in diesem Moment lehnte sich der Junge am entlegenen Ende über die Bahnsteigkante, hielt sich gar nur noch mit einer Hand an der Abgrenzung fest, schielte in den dunklen Tunnel hinein und bemerkte dabei nicht, dass von der anderen Seite her bereits der nächste Zug heranpreschte.
„Vorsicht!“, schrie Lone, doch das Kind reagierte nicht und schien von der nahenden Bedrohung in seinem Rücken keinerlei Notiz zu nehmen. Lone hörte das Dröhnen des Zuges immer näherkommen, versuchte noch schneller zu rennen und setzte mit ausgestrecktem Arm zum Sprung an. Er bekam den Arm des Jungen zu fassen und zog ihn ruckartig von der Kante weg. Keine Sekunde zu spät. Der Zug knallte mit brachialer Gewalt und nur wenige Zentimeter von ihnen beiden entfernt vorbei.
„Alles in Ordnung?“, keuchte Lone, richtete sich wieder auf, ignorierte seine schmerzenden Knie und zwang sich zu einem tröstenden Lächeln.
„Yuki!“, keifte eine hohe Stimme. Hinter Lone tauchte eine Frau mit zerzausten Haaren auf. Sie ergriff die Hand des Kindes und zog ihn grob von Lone weg, ohne dem auch nur einen Funken Aufmerksamkeit zu schenken.
„Renn ja nie wieder weg!“, maulte sie, zerrte den Jungen zuerst den Bahnsteig entlang und schließlich die Treppe hinauf. Der begann zu weinen und streckte während des gesamten Wegs die freie Hand nach Lone aus.
„Gern geschehen…“, murmelte Lone und seufzte. Er griff nach der Absperrung neben sich und wollte sich gerade an dieser hochziehen, als ihm etwas Sonderbares daran ins Auge stach: Ein schlichtes K auf schwarzem Grund war in das Metall eingraviert worden. Darunter sogar dasselbe Symbol wie auf der Karte, die er in seiner Tasche gefunden hatte. Wieder dieses auseinandergerissene Glied einer großen Kette. Das konnte unmöglich ein Zufall sein!
Er warf einen verstohlenen Blick über seine Schulter – der Bahnsteig war noch immer seelenverlassen. Wenn, dann musste er es jetzt sofort wagen, bevor Passanten als potenzielle Augenzeugen auftauchen konnten! Mit klopfenden Herzen erhob er sich, kletterte über das hüfthohe Gestänge und folgte dem schmalen Weg, der am Gleisbett entlang in den U-Bahntunnel hineinführte. In regelmäßigen Abständen strahlten uralt anmutende Neonröhren Licht an die fahlen Mauern des Schachtes. Dadurch entstanden Kreisrunde Lichtkegel und innerhalb jeder dieser Kegel erstrahlte dasselbe Symbol.
Zögerlich und immer dazu bereit, sein Heil in der Flucht zu suchen, setzte Lone einen Fuß nach den anderen. Der Weg führte tiefer und tiefer in den Tunnel hinein, bis er schließlich an einer Tür ankam, über der eine letzte Neonröhre thronte.
Die Tür wirkte fehl am Platz, vor allem, weil ihr Aussehen sehr stark an das einer Luke auf einem U-Boot erinnerte: Dunkelgrauer Stahl mit abgerundeten Ecken wurde von dicken, daumengroße Nieten zusammengehalten.
Lone kamen Zweifel. Er fragte sich, ob er an diesem Ort wirklich richtig war. Ob er überhaupt erwünscht war.
„Ist doch eh egal…“, murmelte er trotzig zu sich selbst. Willkommen fühlte er sich ohnehin nirgends mehr. Er war ein No-Chip... Nur ein verdammter No-Chip!
Um sich Mut zu machen, sog er zweimal so viel Luft in seine Lungen wie er konnte und pustete sie energisch wieder aus. Dann hob er die Hand und klopfte auf den rauen, kalten Stahl.
Mit einem lauten Knacken öffnete sich eine schmale Lucke direkte auf Augenhöhe. Ein dunkles Augenpaar stierte ihm entgegen und zuckte kurz von unten nach oben.
„Hast du eine Einladung?“, fragte ihn eine tiefe, kratzige Stimme.
„Eine Einladung?“, stotterte Lone.
„Die Karte?“
Lone kramte hastig in seiner Tasche, zog die Visitenkarte hervor und hob sie vor den Schlitz. Wieder knackte es laut, der Schlitz verschwand, gefolgt von einem kräftigen Schlag, der sich anhörte, als hätte jemand mit einer Metallstange auf ein Autodach gehämmert. Dann schwang die Tür auf.
Der Mann, der ihn dahinter misstrauisch musterte, war bullig und groß. Er zwängte seine breiten Schultern in einen militärisch wirkenden Mantel, der ihm bis knapp oberhalb der Knie reichte. Überhaupt verliehen ihm die kurz geschorenen Haare und der grimmige Gesichtsausdruck das Erscheinungsbild eines Soldaten.
An ihm vorbei erhaschte Lone einen Blick in das Innere: Er erkannte einen langen Gang mit Wänden aus dunkelgrauem Beton und kreisrunden Deckenlampen. In regelmäßigen Abständen spickten massive Metalltüren die Mauern, die dabei allesamt genauso aussahen, wie die Eingangspforte.
„Na los, worauf wartest du?“, schnaubte der Mann Lone an, drehte sich um und schritt zügig den spärlich beleuchteten Korridor entlang. Als er nach mehreren Metern bemerkte, dass Lone immer noch keine Fuß über die Schwelle gesetzt hatte, fauchte er: „Komm schon, wir haben nicht den ganzen Tag Zeit! Du bist hier nicht der einzige Jouhatsu!“
Da war es wieder. Dieses Wort, das Lone nicht verstand. Er fühlte sich, wie in einem komplizierten Videospiel gefangen, bei dem er das Tutorial törichterweise übersprungen hatte und jetzt, bereits tief im Plot verstrickt, rein gar nichts mehr verstand. Andererseits, was hatte er schon zu verlieren? Immerhin schien das Spiel für ihn so oder so vorbei zu sein. Es war nur noch eine Frage der Zeit. Game Over.
„Jouhatsu“, murmelte er, hob sein Bein, trat über die Schwelle und schloss die Tür hinter sich.
„Na los!“, keifte der Mann erneut, drehte sich um und ging weiter. Lone holte ihn mit hastigen Schritten ein, hielt dann aber sicherheitshalber doch eine Armlänge Abstand.
Der Korridor endete an einer letzten Tür, die sich in Form und Gestalt grundlegend von den anderen unterschied. Sie schien aus purem Gold gefertigt zu sein. Außerdem war ihre Oberfläche so aufwendig poliert worden, dass man sich selbst darin betrachten konnte wie bei einem Spiegel. Einzig ein großes, schwarzes „K“ unterbrach das wertvolle Edelmetall und sog einen Teil des goldgelb reflektierten Lichts wieder in sich auf.
Der Mann griff nach der kleinen Drehkurbel daran. Mit zwei routinierten Umdrehungen sprang der Riegel zurück und entsicherte das Schloss.
„K wartet bereits auf dich“, murmelte er. Dann packte er Lone an der Schulter, riss die goldene Tür auf und drückte ihn in die neue Welt hinein.
Hiroshi Takara. Ein alter Mann, Glatze, buschige weiße Augenbrauen, kleine Gestalt. Er sitzt auf einer Parkbank, beobachtet die vorbeifahrenden Autos, die vorüberziehenden Passanten, das hastige Treiben der schnaubenden Innenstadt. Eine weiße Plastiktüte liegt auf seinem Schoss, seine Finger hält er darin vergraben.
„Sie haben die Altersgrenze auf 13 heruntergesetzt, hast du das mitbekommen? Ja, wirklich, jeder, der sich gegen den Chip zur Wehr setzt, wird jetzt schon ab 13 gebrandmarkt.“
Hiroshi lauschte einer Stimme, die gar nicht zu hören war, und antwortete dann: „Warum? Nun ja, der Chip ist wichtig. Wir hatten so viele Probleme in den letzten Jahrzehnten, so viele Pandemien, Mutationen, angepasste Medikamente und Maßnahmen. Irgendwie muss man ja den Überblick behalten. Der Chip ist dafür genau das richtige Mittel. Zum einen sind alle persönlichen Daten darauf gespeichert, zum anderen überwacht er die meisten deiner Körperfunktionen. Man bezahlt damit, braucht ihn als Ausweisdokument, fürs Kino, für Reisen, eigentlich sogar für den Nahverkehr, wobei sie da nicht wirklich kontrollieren, sonst gibt es wieder Aufstände. Wie, was sagst du?“
Hiroshi lehnte den Kopf nach rechts und hob die Augenbrauen. Irgendwann erwiderte er: „Nein, es gibt nicht mehr so viele No-Chips wie früher. Das ist auch gut so. Sie sind ja schuld daran, dass alles schlechter geworden ist, vor allem die Wirtschaft und dergleichen. Es ist schwer, mit ihnen umzugehen. Für die meisten von ihnen ist es irgendwann so brenzlig geworden, dass sie entweder nachgegeben haben oder einfach aus ihrem Leben verschwanden.“
Hiroshi strich sich einmal über den Kiefer, als besäße er einen langen, weißen Bart, den er geraderrichten musste.
„Das ist schon ein Phänomen. Es war früher bereits bekannt, doch in den letzten Jahren ist es eine regelrechte Welle geworden. Und es betrifft mittlerweile nicht mehr nur No-Chips. So viele Menschen verspüren den dringenden Wunsch aus ihrem Leben zu fliehen. Von heute auf Morgen einfach zu verschwinden, keine Spuren zurückzulassen, ein klarer Cut, ohne Wenn und Aber… Es gibt einen Namen dafür, kennen Sie den?“
Als ihn auch nach mehreren Sekunden keine Antwort erreichte, flüsterte Hiroshi: „Jouhatsu! Sie nennen sich Jouhatsu. Ein seltsamer Begriff… Am Ende laufen wir doch alle vor irgendetwas weg. Wir alle sind Jouhatsu, wir alle…“
Hiroshi schnalzte mit der Zunge und erhob sich von der Bank, wobei seine Plastiktüte laut raschelte. Dann holte er einmal tief Luft, wandte sich der Katze zu, welche die ganze Zeit neben ihm gesessen hatte, verneigte sich vor ihr und ging seines Weges.
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