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Jouhatsu | Folge 12 - Familie

Aktualisiert: 23. Jan. 2022

U-Bahn. Zu viele Menschen. Alle zu langsam. Verschwindet! Ihr alle, verschwindet! Ayumi…


Es kam ihm vor, wie in einem Traum. Er versuchte zu rennen, bewegte sich aber viel zu langsam vom Fleck. Die Zeit in der Bahn hatte sich angefühlt wie Jahre. Jetzt sprintete Lone den dunklen Weg zu Ayumis Wohnung entlang, den er mittlerweile in und auswendig kannte.

Alles schmerzte, Schweiß und Schmodder hingen ihm im Gesicht – es war ihm egal. Seine Füße hatten Blasen, die platzten – es war ihm egal. Seine Lunge brannte und das Seitenstechen machte es fast unmöglich, überhaupt noch Luft zu bekommen. Es war ihm egal.

„Du verstehst das nicht.“ Warum bekam er diese Worte nicht mehr aus dem Kopf. Seine Worte. Das hatte er ihr gesagt, als er sie das letzte Mal gesehen hatte. Wieso? Wieso war er dann einfach davongerannt. Geflohen. Wie ein Jouhatsu. Wieso rannten sie alle davon, wieso wiederholte sich alles, mal um mal? Was hatte er nur getan…

Nach einer gefühlten Ewigkeit bog Lone endlich in ihre Straße ein. Sein Kopf zuckte in alle Richtungen, er suchte nach der Bedrohung, nach ihm, nach Grey Dog. Doch blieb sein Blick schließlich an jemand anderem hängen. Ayumi saß allein auf der Parkbank, so wie in ihrer ersten Nacht.

Als gewähre ihm ein Foltermeister endlich Gnade, brach Lone zusammen, fiel vorn über und begann lautstark zu husten. Ayumi hob den Kopf, erblickte ihn, stand auf und kam zögerlich näher.

„Lone?“, rief sie schließlich und es war eindeutig ihre Stimme. Er hätte sie immer wiedererkannt, diese wunderschöne, weiche, liebe, tröstende Stimme. Lone wollte sich aufrichten, wollte zu ihr gehen, sie umarmen, ihr sagen, dass er ein Idiot gewesen war, dass er nie wieder einfach wegrennen würde, dass es ihm leidtat, so sehr leidtat; doch seine Beine versagten ihm den Dienst.

Obwohl ihm die Eingeweide und die Gliedmaßen wie Feuer brannten, zirkulierte in ihm ein Gefühl allesheilenden Glücks. Er wusste, dass er gleich wieder neben ihr liegen und ihren Körper spüren durfte, der immer genauso warm zu sein schien wie der seine. Er wusste, dass sie ihm von ihrem Tag erzählen würde oder wieder von Büchern, die sie gelesen hatte, von Böll und Kafka und Steinbeck und dass er nichts anderes zu tun brauchte, als ihr zu lauschen, dass es nicht mehr bedarf, um seine Seele zu heilen. In diesem Augenblick schwur er sich, in Zukunft mehr darauf zu achten, es nicht mehr für selbstverständlich zu nehmen. Nicht immer wegzurennen, nur weil es manchmal wehtat.

Ayumi blieb stehen. Das Licht einer Laterne umrandete ihre Umrisse und brachte ihre Augen zum Glänzen wie wertvolle Edelsteine. Sie lächelte ihn an.

Er murmelte ihren Namen. Ayumi.

Ein weißer Van raste am entlegenen Ende der Straße um die Ecke und näherte sich mit quietschenden Reifen. Ayumi drehte sich um. Lone konnte ihr Gesicht nicht mehr sehen. Der Wagen bremste neben ihr aprupt hab, weißer, stinkender Rauch stieg auf, die Seitentür öffnete sich, eine Hand schnellte hervor, es knallte. Ayumis Körper sackte in sich zusammen. Sie schlug auf dem dunklen Boden auf, die Gliedmaßen merkwürdig abgewinkelt und von sich fortgestreckt wie bei einem toten Käfer. Lone erkannte erst jetzt die Waffe in der Hand des Mannes im Fahrzeug, aus deren Lauf es rauchte. Der Van setzte sich indes wieder in Bewegung, wurde immer schneller und hielt direkt auf ihn zu. Er reagierte nicht darauf, wagte es aber auch nicht, den Blick wieder auf Ayumi zu lenken. Er musste gar nicht. Das Bild von ihr – zusammengesackt auf dem Boden liegend – hatte sich in sein Inneres eingebrannt, wie bei einem überbelichteten Film. Er würde nie mehr wegsehen können. Nie mehr.

Wie klang ihre Stimme? Sie hatte doch gerade noch seinen Namen gerufen, warum konnte er sich dann jetzt schon nicht mehr daran erinnern, wie ihre Stimme klang?

Der Wagen kam neben ihm zum Stehen. Männer mit Skimasken stiegen aus. Sie stülpten ihm einen schwarzen Sack über den Kopf. Lone wehrte sich nicht. Es wurde dunkel. So dunkel.


Lone stand vor dem Bett seiner Mutter. Das monotone piepsen erinnerte an den kontinuierlichen Zerfall der Zeit. Ihre Kraft schwand, man sah es, man spürte es, beide wussten es. Dennoch lächelte sie. Sie betrachtete ihren Sohn und Lone glaubte Stolz in ihren Augen zu erkennen. Dabei schämte er sich so sehr, weil er dort liegen sollte und nicht sie.

„Lone, ich glaube es wird Zeit, dass ich dir die Dinge über deinen Vater erzähle, die du noch nicht weißt…“


Schüsse ertönten, Männer brüllte, Metall traf auf Metall, zerschmetterte sich gegenseitig und barst das Leben entzwei. Für Lone war alles dumpf und alles gleich. Selbst ohne den Sack auf seinem Kopf, wäre wohl alles um ihn herum grau und dunkel geblieben. Die Tür wurde aufgerissen, noch mehr Schreie und Schüsse ertönten, eine Hand ergriff ihn an der Schulter, zerrte ihn weg. Er schlug auf dem Boden auf, Schmerzen und kalte Nachtluft nahmen ihn in Empfang. Dann hörte er das aufheulen eines Motors, zuerst ganz nah und laut, dann immer leiser werden.

„Nimm ihm den Sack vom Kopf!“, keifte jemand. Es wurde hell. Zu hell. Lones Augen konnten nichts fassen und brannten, als drücke man ihm heiße Nadeln hinein. Dann erkannte er Gronk und Kid. Beide beugten sich über ihn und sahen ihn mit besorgten Mienen an.

„Weg von ihm!“ Die Stimme war rauchiger, älter, doch nicht weniger vertraut. Er spürte wie ihn kräftige Hände vom Boden auf die Beine zerrten. Er ließ es geschehen.

„Komm Lone!“ Es war K, die ihn aufgerichtete hatte und jetzt in Richtung der beiden Kiefernbäume drängte. Lone spürte, wie ihm Tränen über das Gesicht strömten, wusste aber nicht wieso. Er fühlte sich nicht traurig oder verletzt, nicht verloren oder hilflos, nicht allein oder einsam… er fühlte gar nichts. Als hätte jemand einen Schalter betätigt und alles in ihm zum Erliegen gebracht.

Er wollte einen Blick über die Schulter werfen. K wusste das zu verhindern. Sie berührte ihn sanft an der Wange und schüttelte mit schmerzverzerrter Miene den Kopf. Sie führte Lone in den Friedhof hinein. Irgendwann blieben sie stehen, setzte Lone auf eine Bank vor einem steinernen Schrein und sich selbst daneben.

„Es tut mir sehr leid, Lone… Sie ist tot.“ Auch wenn K sich alle Mühe gab, ihre Worte weich und behutsam klingen zu lassen, schmälerte das keineswegs die grausige Gewissheit, die sie transportierten. Lone begann zu nicken. Zuerst war es nur sein Kopf, dann der ganze Körper. Er wiegte vor und zurück, vor und zurück, immer wieder. Erst, als ihn K‘s Hand am Rücken berührte, konnte er aufhören.

„Ich hätte es dir sagen sollen“, flüsterte Lone und starrte dabei auf den Boden.

K sah ihn mit glasigen Augen an. Ihre Hand wanderte hinauf zu Lones Schulter. Sie zögerte noch kurz, dann zog sie ihn an sich heran und umarmte ihn. Lone begann bitterlich zu weinen. K umschloss ihn noch fester.

Sie wartete geduldig ab, bis Lones Schluchzen abebbte, ließ ihn aber nicht los. Irgendwann erhob sie leise flüsternd das Wort.

„Lone. Ich habe dich sehr gern. Aber du darfst nicht mehr wegrennen. Du kannst nicht mehr wegrennen. Du musst unbedingt verstehen, dass du unsere Hilfe brauchst. Und dass wir eine Familie sind. Es ist nunmal so…“, auch an K‘s Wange kullerte eine Träne hinab, „Das Einzige, was uns im Leben hält, sind andere Menschen.“ Mit einer sanften Berührung am Kinn hob sie Lones Kopf und blickte ihm direkt in die Augen.

„Lone… Familie ist alles. Und wir alle sind deine Familie!“

Lone wusste nicht was er sagen sollte. Er hatte einen Fehler begangen, für den er nun den Preis zahlen musste. K schien ihm trotzdem zu verzeihen. Vor allem aber ließ sie ihn nicht allein zurück und verurteilte ihn auch nicht.

„Danke“, murmelte Lone schließlich, hin und hergerissen zwischen quälender Trauer und aufrichtiger Dankbarkeit.

K nickte und erhob sich dann. Strenge kehrte in ihr Wesen zurück.

„Bleib noch ein bisschen hier. Gronk wird dich gleich abholen. Dann… gehen wir nach Hause.“ Sie schenkte ihm ein letztes, aufmunterndes Lächeln, drehte sich um und schritt dann mit wehendem, weißen Admiralsmantel davon.

Lone blickte ihr nach, bis ihre Umrisse ganz mit der Nacht verschmolzen waren. Die Luft drang kühl und schroff an seine Haut, roch nach Rauch und feuchtem Nebel.

„Ayumi“, flüsterte er und die warmen Tränen rannen über seine Wangen, „Es tut mir so leid.“


K trat aus dem Schatten des Friedhofs heraus, in dem sie Lone zurückgelassen hatte. Jinx, Kid, Gronk und ein paar fremde Seeder sahen sie erwartungsvoll an.

„Holt den Wagen, in einer viertel Stunde sollten wir hier weg sein“, befahl sie.

Ohne die Männer eines weiteren Blickes zu würdigen, überquerte sie die Straße und hielt schnurstracks auf die Parkbank zu. Sie setzte sich an den linken Rand und seufzte. Nachdem sie einige Sekunden geradeaus geblickt und nachgedacht hatte, wandte sie sich der Frau zu, die am anderen Ende der Bank neben ihr saß. Sie hatte die Hände um den Körper geschlungen und starrte kreidebleich in die Ferne. Ihr Pullover und die Hose waren leicht feucht und verdreckt, weil sie bis gerade eben noch auf dem nassen Teerboden gelegen und ausgeharrt hatte, bis Lone im Friedhof verschwunden war. K lächelte ihr zu, steckte sich eine Zigarette an und flüsterte: „Das hast du sehr gut gemacht… Ayumi!“

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