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Jouhatsu | Folge 1 - Die Karte

Aktualisiert: 14. Jan.

„Du hättest nicht alles allein machen müssen“, murmelte er und bekam doch wieder keine Antwort. Es roch nach Zigarrenrauch in dem kleinen, dunklen Zimmer, in dem Lone schon seit Stunden neben einem Bett saß, ohne sich auch nur einen Millimeter vom Fleck zu bewegen. Woher kam dieser Geruch? Er wusste es nicht.

„Warum hast du mich nicht mehr machen lassen?“ Lone befühlte sein spitz zulaufendes Kinn und spürte Feuchtigkeit. Er führte den Finger zum Mund und kostete. Es schmeckte nach Gischt und Meereswasser, nach grauer, kalter, verschlingender Unendlichkeit. Er musste an ihre Worte vom Vorabend denken. Da hatten sie über seinen Vater gesprochen. Eigentlich hatte er herzlich wenig Lust gehabt in so einer Situation über den Mann zu sprechen, der ihn kurz nach seiner Geburt einfach im Stich gelassen hatte und verschwunden war. Doch sie hatte darauf bestanden und ihm einen Begriff genannt, den er noch nie zuvor gehört hatte.

Dein Vater war ein Jouhatsu, hatte sie gesagt.

Was war ein Jouhatsu?

Die Tür ging auf und eine Frau streckte den Kopf herein. Als sie Lone erblickte, rümpfte sie die Nase und keifte: „Nun ist aber genug. Sie müssten schon längst weg sein. Und wieso riecht es hier eigentlich nach Rauch?“ Dann, nach einem kurzen, wertenden Blick, fügte sie hinzu: „Das bringt sie auch nicht mehr zurück!“

Die Tür fiel krachend ins Schloss. Lones schwarze Augen funkelten im spärlichen Licht, das durch die Jalousienschlitze drang. Er erinnerte sich an das Piepsen, das bis vor wenigen Stunden noch den Takt vorgab. Jetzt war da nichts mehr.

Er wischte sich über das Gesicht, fuhr sich einmal durch die schwarzen Haare, erhob sich und verließ ohne zurückzublicken das Krankenhauszimmer. Das Bett darin war leer.


Lone irrte durch dunkle Gassen. Die Nacht war noch nicht hereingebrochen und dennoch erschien ihm alles düster, grau und trist. Die feuchte Luft kündete vom nahenden Regen.

Der Stadtteil hieß Yasui. Die Menschen mieden einander, misstrauten sich, tauschten arrogante Blicke aus. Keiner war willkommen, doch manche wurden regelrecht gehasst. Wieso gehasst? Wieso hasste ihn die Welt?

Lone blieb stehen. Hohe Backsteinwände begrenzten seinen Weg und schlugen eine kleine Schneise in die Luft hinein. Er hob langsam den Kopf und stierte in den Himmel. Die vom geballten Licht der Großstadt verschmutzten Wolken bauschten sich zu übermächtigen Giganten auf. Er hörte ein leises Summen, blickte hinab und sah einen kleinen zappelnden Marienkäfer auf dem dunkelgrauen Teer liegen. Tatsächlich ein Marienkäfer!

Er ging in die Hocke und betrachtete das arme Tier, das auf dem hohen, runden Rücken lag und von allein nicht mehr auf die Beinchen kam. Vorsichtig streckte er den rechten Daumen aus und ließ den Käfer sich daran festhalten. Der nahm die Hilfe dankbar an und wischte sich zuallererst emsig über die Elytren. Lone hob die Hand in Zeitlupe vors Gesicht, um das Tier nicht zu verscheuchen. Aus nächster Nähe und auf Augenhöhe betrachtet, wirkte er sogar noch schöner als von oben herab. Man sagte, dass die Anordnung der Punkte bei jedem Käfer einzigartig sei, dass keiner dem anderen glich. Eine meisterhafte Schöpfung. Bei diesen Tieren versuchte keiner alle gleich zu machen, zu normen und zu formen, so lange, bis nur noch ein gesichtsloser Haufen überblieb, einheitlich und leicht zu kontrollieren.

„Ein Wille geschehe, nur ein Wille…“, murmelte Lone, lächelte den Marienkäfer an und fragte ihn: „Na, was würdest du an meiner Stelle tun, kleiner Freund?“

Als hätte das Tier ihn verstanden, breitete es sogleich die Flügel aus und schwang sich in die Luft empor. Lone folgte dem Flug des Käfers gespannt, legte den Kopf in den Nacken und spürte die Regentropfen fast nicht, die seine Haut benetzten, während er das gepunktete Lebewesen langsam aus dem Blick verlor. Erst als das Prasseln immer lauter und hämmernder wurde, fand er zur Realität zurück. Vielleicht sollte er sich weniger Gedanken machen. Mehr leben, weniger nachdenken. Sicher handhabte es der kleine Marienkäfer nicht anders. Den Gedanken, dass ihm aber keine übergroße Hand aus der Patsche helfen würde, ignoriert Lone für den Augenblick. Sein Magen knurrte. Er hatte Hunger.

„Essen holen“, murmelte er und nickte energisch, als müsste er sich Mut machen.

Ein paar Straßen weiter fand er einen kleinen Express-Supermarkt. Das Neonlicht der umliegenden Reklametafeln fiel auf die weiß-verdreckte Fliesenfassade und verfärbte sie abwechselnd in grelles Grün und Lila. Lone zog sich die Kapuze seines Pullovers tiefer ins Gesicht und trat ein. Er ging zügig zu den Regalen mit den verpackten Sandwiches. Sein Herz klopfte laut in der Brust und seine Hand zitterte leicht, als er halb blind zugriff und eine der Plastikverpackung von der Auslage fischte. Während er in Richtung Kasse schlich, hielt er den Kopf gesenkt und versuchte, möglichst keinem der anderen Kunden im Geschäft aufzufallen. Er legte das Sandwich wortlos auf den Tresen und kramte in seiner Jeanstasche nach Kleingeld. Der Kassierer aschte seine Zigarette in eine leeren Red Bull Dose ab und nuschelte: „Das macht 700 Yen.“

Lone zählte die Münzen in seiner Hand ab und legte dann eine große und zwei kleinere neben das Sandwich.

„Nein, nein, wir akzeptieren hier kein Bargeld, nur Chip.“

Lones Hand, die soeben nach dem Sandwich gegriffen hatte, erstarrte. Er hatte das Gefühl, jemand gieße ihm heiße Lava direkt in die Körpermitte.

„Könnten Sie nicht eine Ausnahme machen?“, stammelte er. Bevor er die Bitte ganz ausgesprochen hatte, schnellte die Hand des Kassierers nach vorn und packte ihn am Handgelenk. Mit einem unbarmherzigen Ruck drehte er sie herum und zog Lones Pullover zurück. An der Unterseite seines Arms, direkt über dem Gelenk, thronte eine verblasste Brandnarbe. Die Form zeichnete ein großes, ewig bleibendes X.

„Dacht ich mir doch, dass du ´n verdammter No-Chip bist!“, zischte der Kassierer und spuckte beherzt zu Lones Füßen.

„Drecks No-Chips!“, fluchte ein anderer Kunde, der alles mitbekommen hatte und näherkam.

Lone rang nach Luft, er hörte Gemurmel, blickte nervös hinter sich, wo ihn mittlerweile mehrere Gesichter wütend anstarrten. Panisch riss er sich vom Kassierer los, wirbelte herum und wollte gerade aus dem Laden sprinten, als er mit jemanden zusammenstieß. Er stammelte ein schnelles „Entschuldigung“ hielt den Blick gesenkt und hastete weiter, während ihm der Kassierer hinterherrief: „Lass dich hier ja nie wieder blicken!“

Draußen begann er zu rennen, floh durch den peitschenden Regen hindurch, ignorierte, dass sich seine Klamotten mit Wasser vollsogen und auch, dass ihm Seitenstechen schier unerträgliche Schmerzen bereitete. Er wollte einfach nur weg. Allem entkommen. Für immer fliehen. Sein Blick vernebelte sich.


Als er wieder zu sich kam, saß er auf einer Metallgitterbank. An dem U-Bahnsteig warteten nur eine Handvoll Menschen auf ihren Zug. Er hatte es geschafft, seine Atmung zu stabilisieren und der Panikattacke Herr zu werden. Trotzdem wagte er es nicht, die Kapuze abzunehmen, gleichwohl der nasse Stoff an seinem Kopf klebte und ihn zunehmend unterkühlte. Er vergrub die Hände in den Taschen seines Pullovers, um sie zu wärmen und spürte etwas Hartes. Er holte den fremden Gegenstand hervor und inspizierte ihn. Es war eine Visitenkarte. Eine, die definitiv nicht ihm gehörte. Er hatte noch nie eine erhalten, geschweige denn eine eigene besessen. Goldene Lettern zierten den braunen Karton und formten ein einprägsames Wort. Eines, das Lone bis zum gestrigen Tag noch nie zuvor gehört hatte. Ein Wort, das ihm verheißungsvoll zuflüsterte:


Jouhatsu.


Über den Buchstaben thronte ein Symbol, das aussah, wie das zerbrochene Glied einer sehr großen und schweren Eisenkette. Nachdem er dieses lange beäugt und zur Genüge bestaunt hatte, drehte er die Karte herum. Auf der Rückseite stand:


K

Yonige-Ya

An der Hajimari-Haltestelle


„Hajimari-Haltestelle“, murmelte Lone.

Sich aufbäumender Wind kündigte die Ankunft der nächsten Bahn an. Die Menschen um ihn herum, von denen die meisten mit geneigtem Kopf auf ihre Smartphones, -watches und -glasses stierten, bewegten sich wie im Kollektiv Richtung Bahnsteigkante.

Der Zug fuhr ein und Lone saß noch immer an seinem Platz. Die Türen öffneten sich, doch er verharrte weiterhin auf der Bank, hielt die Karte in der Hand und betrachtete dieses seltsame Wort, von dem er nicht einmal wusste, was es bedeutete.

Erst im letzten Moment sprang er auf, preschte nach vorn und schlüpfte gerade noch rechtzeitig durch die sich schließenden Türen hindurch in das Innere des Zuges. Einige Passagiere drehten den Kopf, starrten ihn kurz an, kümmerten sich dann aber doch lieber um ihre Smartgeräte. Lone blickte auf die Stelle zurück, an der er bis gerade eben noch gesessen hatte. Der Zug setzte sich in Bewegung. Dann wurde es dunkel.


Wegen der Dunkelheit, konnte man den großen Mann nicht richtig erkennen, der in der Nähe des Express-Supermarkts, aus dem Lone soeben geflohen war, eine Zigarre rauchte. Er schien auf etwas zu warten. Einzig seine weißen Haare und Bart wehrten sich tapfer gegen die Schwärze.

„Hat er die Karte erhalten?“, fragte er irgendwann mit tiefer Stimme in die Dunkelheit hinein. Eine leise Stimme antwortete.

„Ja, Grey Dog. Ich habe ihn gespotted.“

Der Mann lachte laut auf, so als hätte man ihm soeben einen genialen Witz erzählt. Er rieb sich die Tränen aus den Augen und erwiderte dann mit bestimmtem Ton.

„Gut… Sehr gut. Es ist an der Zeit, dass er ein Jouhatsu wird.“

Einige Sekunden später, waren beide verschwunden. Nur der Stummel einer Zigarre blieb zurück. Und mit ihr ein silbriger Nebelfaden, der unaufhaltsam in die Höhe stieg.

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